Kreiszeitung 24.03.2014

Nervenbündel gegen animalisches Raubein

Am Freitagabend hat das Theater Szene 03 Tennessee Williams Klassiker "Endstation Sehnsucht" vorgestellt und zeigte dabei eine respektable Leistung.

Von Anne Abelein

SINDELFINGEN. Die abgehobene Südstaaten-Schönheit Blanche DuBois hat ihren Familiensitz Belle Rêve verloren und nistet sich bei ihrer Schwester in New Orleans ein. Diese lebt dort mit ihrem reichlich ungehobelten Ehemann, einem Einwanderersohn und Automechaniker. Der Konflikt zwischen der Diva und dem Macho ist programmiert.

Tennessee Williams gibt in seinem 1948 uraufgeführten Stück naturalistisch anmutende Regieanweisungen. Geno Siehrs Bühnenbild folgt diesen im Großen und Ganzen und präsentiert auf der Bühne eine beengte Zweiraumwohnung in New Orleans mit einfacher Möblierung, Ventilator und Radio.

"Endstation Sehnsucht" nennt sich die nächstgelegene Haltestelle, und dort schlägt eines Tages die verarmte Südstaaten-Schönheit Blanche auf (Annette Kadow). Im Diva-Look mit Glitzerstola wirkt sie in der Wohnung ihrer Schwester von Anfang an wie ein Fremdkörper, was vor allem ihren Oberschicht-Allüren geschuldet ist.

"Was hast du denn in so einer Umgebung zu suchen?" fragt Blanche ihre Schwester entsetzt. Stella (die sanfte Claudia Giricz) nimmt sie aber gutherzig in ihrem Hause auf und zeigt auch für die überreizten Nerven der Schwester Verständnis, die sich von ihrer Tätigkeit als Lehrerin vorübergehend hat beurlauben lassen. Sie schützt Blanche zudem vor dem prolligen Stanley Kowalski, Stellas Ehemann, dem die Mätzchen der Diva bald mächtig auf den Keks gehen. Starke Spannungen bauen sich auf.

Im Ensemble Theater Szene 03 haben sich Amateure und professionelle Schauspieler aus Sindelfingen und der Umgebung zusammengetan und stellen etwa einmal jährlich einen Theaterabend auf die Beine. Manchmal sind es Kammerspiele mit ein bis zwei Personen, ein andermal figurenreiche Dramen. Vor einem Jahr hat das von Jürgen Siehr gegründete Ensemble sein zehnjähriges Bestehen gefeiert. "Endstation Sehnsucht hat mich schon lange beschäftigt", sagt Siehr. Und da es dieses Jahr an keiner anderen Bühne in der Region Stuttgart gespielt wird, hat er die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen. Das Ensemble präsentiert im leider etwas unterbesetzten Theaterkeller eine reife Leistung. Nur in Szenen, die viel Körpereinsatz erfordern, agieren die Schauspieler etwas verschämt.

Annette Kadow, die seit langen Jahren im Dreigroschentheater in Stuttgart auftritt, gibt Blanche als versnobtes, hyperventilierendes Nervenbündel, das zugleich mit großer Raffinesse die Männer einwickelt. So zum Beispiel Stanley Kowalskis Pokerkumpel Mitch (treuherzig gut von Karsten Spitzer verkörpert), der sich um seine todkranke Mutter sorgt. Annette Kadow unterstreicht mit strahlenden Augen, schwärmerischer Stimme und affektierten Gesten Blanches hoffnungslosen Realitätsverlust, erweckt aber mit ihrem facettenreichen Spiel auch etwas Verständnis für die höhere Tochter, welche Poesie und Romantik hochhält. Im Grunde genommen möchte Blanche dem Darwinismus der auf-strebenden Industriegesellschaft, der den Hintergrund des Stückes bildet, etwas entgegensetzen.

Stanley Kowalski (Tristan Materna), den Blanche als "primitiv" und "ordinär" schilt, trägt ein T-Shirt, das die Evolution vom Affen zum Menschen zeigt. Er gibt Stanley teils schlicht, direkt und bärig-gutmütig, teils bauernschlau und reizbar (im Laufe des Stücks geht er auf seine schwangere Ehefrau los). Es wird gut begreiflich, wie diskriminiert sich der Einwanderersohn fühlen muss, der von Blanche als "Polacke" bezeichnet wird.

Die Spannungen eskalieren

Stanley sieht sich als unangefochtener Hausherr und möchte die aufmerksam-keitssüchtige Blanche in ihre Schranken wiesen. Dazu wühlt er in ihrer Vergan-genheit und fördert Erstaunliches zu Tage: Blanche hat in ihrer Heimatstadt auf der Suche nach Halt und Schutz mit mehreren Männern und zuletzt einem 17-Jährigen angebandelt, was sie auch ihren Job gekostet hat. Stanley erzählt dies Mitch, der mit Blanche bricht, diese verharrt aber in ihrem Lügengespinst. Daraufhin brechen sich die gewaltigen Spannungen Bahn, die sich in der beengten Wohnung aufgestaut haben: Stanley vergewaltigt Blanche, Stella glaubt ihr aber nicht, und zum Schluss liefert Stanley die gebrochene Blanche einem Arzt aus, der sie in eine Heilanstalt verfrachtet. Hier hat der Regisseur Jürgen Siehr als Psychiater seinen Einsatz. Die Zuschauer spendieren für den dichten und spannenden Theaterabend viel Applaus.

 

 

SZ/BZ 25.03.2014


Klassiker mit furiosem Ende


Spannendes Theatererlebnis in Sindelfingen:


Jürgen Siehr hat mit seinem Ensemble Theater Szene 03 den Klassiker „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams inszeniert.

 

Von unserem Mitarbeiter Matthias Staber

 

Aufgeblasene Zicke mit rassistischen Tendenzen. Überreizte Jungfer mit Sexsucht-Problem. Opfer einer verlogenen puritanischen Männergesell-schaft, in der Gewalt gegen Frauen akzeptabel scheint: Als Blanche DuBois muss Annette Kadow in ihrer Hauptrolle in „Endstation Sehn-sucht“ all dies in ihre Figur legen. Am Besten gleichzeitig und mit, je nach Situation, unterschiedlicher Gewichtung. Keine leichte Aufgabe für die Darstellerin, die auf der Bühne des Sindelfinger Theaterkellers schon unter anderem im Publikumsliebling „Sekretärinnen“ brillierte. Wie Annette Kadow dies hinbekommt und im Zusammenspiel mit den rest-lichen Darstellern knisternde Figurenkonstellationen auf die Bühne bringt: Allein schon dies macht diese Version von „Endstation Sehnsucht“ sehenswert.

 

Als Stanley Kowalski, Schwager, proletarischer Gegenspieler und letztlich Vergewaltiger von Blanche, bringt Tristan Materna eine beinahe schon einschüchternde physische Präsenz auf die Bühne, die von Anfang an subtil gewalttätig wirkt, ohne zu dick aufzutragen. Sympathiepunkte beim Publikum heimst dieser Stanley dennoch ein, als er sich gegen aufgebla-sene Herabwürdigungen und rassistisches Vokabular zur Wehr setzt.

 

Moralische Wertungen

 

Auch hier zeigt sich einer der Stärken sowohl der Inszenierung als auch der darstellerischen Leistungen: Die moralischen Wertungen muss der Zuschauer immer wieder selbst vornehmen. Ein simples Wertungsschema wird nicht geliefert.

 

Aufdringlich, empfindsam, gewalttätig, passiv-aggressiv, eingeschüchtert oder einschüchternd: Was die Darsteller (außerdem Claudia Giricz, Karsten Spitzer, Ursula Trägner, Daniel Neumann, Timo Rahn) an Viel-schichtigkeit menschlicher Strategien der Selbstinszenierung und Empfin-dungen auf die Bühne bringen und dabei den Zuschauer immer wieder dazu einladen, neu zu gewichten und die eigene Wahrnehmung und Ein-schätzung der Figuren zu hinterfragen, sorgt für ein spannendes Theater-erlebnis in Sindelfingen. (…)

 

Nach dem furiosen Ende hat der Zuschauer den Eindruck gewonnen, einen lohnenden Theaterabend mit tollen Darstellern verbracht zu haben.